Kapelle St. Anna

Die St.-Anna-Kapelle wurde 1513 errichtet und ist damit das älteste sakrale Gebäude in der Stadt. Bis vor ein paar Jahren stand sie inmitten einer Streuobstwiese. Seit 2019 ist das Gotteshaus in das städtebauliche Konzept des neuen St.-Anna-Wohnquartier einbezogen. Außergewöhnlich ist, dass die Kapelle keinen Turm besitzt. Ihr Innenraum mit dem spätgotischen Netzrippengewölbe in Langhaus und Chor ist eine architektonische Kostbarkeit. 

Baugeschichte 

Weit vor der damaligen Stadt Tettnang befand sich früher das im Jahre 1482 erstmals urkundlich genannte Lebrosen- oder Siechenhaus, genau an der Stelle, wo heute gegenüber der St.-Anna-Kapelle das Mesnerhaus steht. Vielleicht ist dieser Fachwerkbau, der im Wesentlichen aus dem 18. Jahrhundert stammt, im Ursprung jenes Haus, in dem früher die Menschen mit ansteckenden Krankheiten wie Pest, Lepra oder Aussatz untergebracht wurden. 

Im Jahre 1513 ließen Graf Ulrich VII. von Montfort (†1520) und seine Gemahlin Magdalena, geb. von Oettingen (†1525) eine Kapelle neben dem Lebrosenhaus errichten und der Hl. Anna weihen. Mit dem Bau der Kapelle und der Wahl der Patronin war der Wunsch des Stifterpaares nach erneutem Kindersegen verbunden.  

Nachdem Ulrich VII. gestorben war, stiftete Magdalena 1525 die St.-Anna-Kaplanei mit der Auflage, dass in der Kapelle wöchentlich fünf Gottesdienste gehalten werden, davon montags ein Requiem für die Stifter und ihre Angehörigen. Außerdem war der Kaplan von St. Anna verpflichtet, in der Pfarrkirche beim Singen auszuhelfen. Das Siechenhaus wurde 1730 nach St. Johann verlegt. 1737 wird von einer Renovierung der St.-Anna-Kapelle berichtet. Wahrscheinlich wurde die Kapelle dabei der Zeit entsprechend barock ausgemalt. In einer Beschreibung von 1937 wird eine Akanthuskartusche beschrieben, die in der Spitze des Chorbogens aufgemalt war und den Hinweis „1513 1737 R V“ trug. Vielleicht ist zu jenem Zeitpunkt auch der Anbau abgerissen worden, der sich nach historischem Baubefund an der Nordseite befand.  

Bauern- und Dreißigjährigen Krieg überstand die Kapelle ohne Schaden. Auch wurden in St. Anna stets Gottesdienste gehalten und die Auflagen der Stifter erfüllt. Mit der Zeit der Aufklärung kam allerdings zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Epoche, in der man kirchliche Einrichtungen „rationeller“ nutzen wollte. Als im Jahre 1812 der Turm der Pfarrkirche St. Gallus neu gedeckt werden musste, hierfür aber das Geld fehlte, entschloss sich die Kirchenpflege, die „sehr baufällige und wohl entbehrliche St.-AnnaKapelle“ bis auf die Einrichtungsgegenstände zu verkaufen. Unter diesen Einrichtungen wurde auch die Glocke aus dem Turm genannt. Das bedeutet, dass die Kapelle zu der Zeit noch einen Glockenturm gehabt hat. Für 226 Gulden erwarb der Essigfabrikant Fidel Schmid die profanierte Kapelle. Nur ein Jahr später veräußerte er das Gebäude dem damaligen Besitzer des Schäferhofes Christoph von Pfister. Von nun an diente das ehemalige Gotteshaus als Abstellraum, Wagenschuppen und Schafstall. Der Schäferhof kam mit allen zugehörigen Besitzungen 1852 als königliche Hofdomäne an das Haus Württemberg. 

Im Laufe der Jahre wurde die Anna-Kapelle in einen immer ärgeren Zustand versetzt. Wenn nicht schnellstens eine Bestandsicherung und Sanierung eingeleitet würde, müsse man den Bau aufgeben, argumentierte nach dem Zweiten Weltkrieg der damalige Landrat des Kreises Tettnang, Dr. Emil Münch (†1961). Mit seinem Kreisbaumeister Karl Geßler warb er unermüdlich für den Erwerb und Erhalt der Kapelle. Seine Eingaben beim herzoglichen Hof in Altshausen hatten schließlich Erfolg: am 28. Januar 1949 schenkte Herzog Philipp von Württemberg (†1975) Kapelle, Mesnerhaus und die entsprechenden Grundstückflächen der Kirchengemeinde St. Gallus. Durch private Spenden und öffentliche Zuschüsse konnte ein neuer Dachstuhl errichtet und das zum Teil zerfallenen Gemäuer ausgebessert werden. Die zerstörten Fenster wurden durch neue zweiteilige Spitzbogenfenster von Bildhauermeister Buchmaier aus Tettnang ersetzt, der Innenraum vom Kunstmaler Walter Hammer aus Ulm restauriert, die Glasfenster im Chor durch Glasmaler Bernhard aus Ravensburg gestaltet. Nachdem auch der Boden im Gebäude erneuert worden war, konnte im Juli 1952 die Benediktion gefeiert werden. Der erste Gottesdienst nach über 200 Jahren wurde von Pfarrer Waibel unter der Assistenz von Stadtpfarrer Gögler gehalten. 

Doch nochmals gab es für die St.-Anna-Kapelle eine Zeit der Ruhe und Abgeschiedenheit. Erst 1971 wurde die Kapelle für den ständigen Gottesdienst eingerichtet und erneut innen und außen gründlich restauriert. Dabei wurden eine Heizung installiert, eine Wendeltreppe zur Empore gesetzt und ein neuer Boden gelegt. Die Innenausmalung übernahm der Restaurator Leinmüller, Ravensburg. 160.000 DM kostete die Sanierung, dazu kamen die Kosten für eine neue Orgel und die Bestuhlung. Am zweiten Adventsonntag 1971 fand der Wiedereröffnungs-Gottesdienst statt. Seither wird die St. AnnaKapelle regelmäßig für Gottesdienste, Trauungen und Taufen genutzt. Es gab sogar Pläne, neben der St.-Gallus-Pfarrei hier eine zweite Pfarrei an der Schnittstelle zwischen der erweiterten Altstadt und den Neubaugebieten Schäfer- und Oberhof einzurichten.  

1998 musste erneut eine Renovierung durchgeführt werden. Dabei wurden die Malerarbeiten von Siegfried Locher, Tettnang ausgeführt, die Orgel von Hermann Weber, Leutkirch-Engerazhofen gereinigt und neu intoniert. Am 23 Oktober 1998 konnte Weihbischof Rieger mit einem feierlichen Gottesdienst die renovierte Kapelle St. Anna wieder ihrer Bestimmung übergeben. 

Bei der bisher letzten Sanierung 2020 wurden die Feinrisse an der Apsis verklebt und außen der Zementputz an Giebel und Apsis sowie im Sockelbereich entfernt und historisch begründeter Kalkputz aufgetragen. Dabei fand man Zeichnungsspuren an der Giebelwand, und der zugemauerte, spitzbogige Durchgang zum früheren Nebenraum wurde freigelegt. Weitergehende Untersuchungen zu diesem Befund stehen noch aus. 

Baubeschreibung 

Die St.-Anna-Kapelle ist nach Südosten ausgerichtet und besteht aus einem rechteckigen, einschiffigen Langhaus mit eingezogenem, dreiseitig schließendem Chor. Langhaus und Chor haben ein gemeinsames Satteldach, das im Chorabschluss abgewalmt ist. In der Mitte der Westwand (Giebelwand) befindet sich eine Rundbogentür innerhalb einer gestuften Nische, die außen rechteckig und zur Tür hin mit einem elegant geschwungenen Kielbogen ausgeführt ist. Darüber sitzt, leicht nach links versetzt, ein Korbbogenfenster und in gleicher Achse im Giebel ein kleines Flachbogenfenster. An den Längsseiten des Schiffs beginnen ca. 0,5 m unterhalb der Dachkante jeweils drei hervortretende Dreieckpfeiler, die oben mit pultartigem Anlauf versehen sind. An den Abschlüssen der Südwand und am Ostabschluss der Nordwand befindet sich jeweils ein Rechteckpfeiler in ähnlicher Ausführung. Die Nordwand tritt zwischen ihrem westlichen Abschluss und dem zweiten Dreieckpfeiler leicht zurück, der erste Pfeiler ist hier nur ansatzweise ausgeführt. An dieser Stelle befand sich früher ein Anbau, vielleicht eine Sakristei. Die frühere Spitzbogentür zu diesem Anbau wurde zugemauert, nur ein Rundfenster ist übrig geblieben. Den drei Spitzbogenfenstern in der Südwand standen ursprünglich drei gleichartige Fenster in der Nordwand gegenüber, die nun bis auf schmale Fensterschlitze zugemauert sind. 

Der Chorraum ist außen durch Lisenen und ein flaches Gesimsband strukturiert. In der Chornordwand befindet sich innerhalb einer Spitzbogennische eine Rechtecktür. Die fünf Spitzbogenfenster im Chor sind ebenso wie die Fenster im Langhaus in den Bogenfeldern mit unterschiedlichen Maßwerkmotiven verziert. Das mittlere Chorfenster hat ein buntes Glasmosaik. 

Langhaus und Chor besitzen schöne gotische Netzrippengewölbe. Die vier runden Schlusssteine im Langhaus tragen reliefierte und bemalte Wappen. Die Rippen des Chorgewölbes sitzen auf bemalten Wappenschildkonsolen, und die zwei reliefierten und bemalten Schlusssteine im Chor zeigen vorne Anna Selbdritt und im zweiten Stein eine Halbfigur (vielleicht der Baumeister), die einen Wappenschild mit Meisterzeichen und der Jahreszahl 1513 hält. Unter dem spitzen Chorbogen mit deutlich abgeschrägten Pfeilerkanten führen zwei Stufen zum Chor. Es wird vermutet, dass sich unter dem Chor ursprünglich eine Gruft befand. Die Empore, die man über eine Wendeltreppe erreicht, wird von Holzpfeilern getragen. Die Sakristei und ein Wandschrank, beide in Holz ausgeführt, befinden sich unter der Empore. Der 1971 gelegte Boden besteht aus rostroten Bodenplatten.

Einrichtungen

Bei der Renovierung der Kapelle im Jahre 1971 wurde die klassische Architektur und ausgewogene Farbgebung des Innenraums nicht durch üppige Einrichtungen und Kunstgegenstände überladen. So ordnen sich im Chor Altar und Tabernakelsäule, beide aus Sandstein, Ambo und Vortragekreuz, beide aus Bronze, der gotischen Architektur unter. Das Vortragekreuz ist den alten Weihekreuzen nachempfunden, die an den Innenwänden der Kapelle vielfältig aufgemalt sind. Die Gegenstände wurden von dem Rottweiler Künstler Franz Bucher geschaffen und am 4. Adventssonntag 1976 von Weihbischof Franz-Josef Kuhnle konsekriert.

An der linken Stirnseite des Langhauses zum Chor hin befindet sich eine 1,15 m cm hohe Holzfigur der Anna Selbdritt aus dem 16. Jahrhundert. Sie ist eine Stiftung von Heinz Krantz aus Friedrichshafen und wurde der Kirchengemeinde am 29. Dezember 1991 übergeben. Die 1,05 m hohe Madonnenfigur rechts des Chorbogens stiftete der damalige Kaplan Hauser im Jahre 1973. Diese Nachbildung einer gotischen Madonna stammt von einem unbekannten Künstler aus Oberammergau.

Seit 1992 hängt ein großes Kruzifix mit barockem Korpus innen an der Nordwand der Kapelle. Etwas bescheiden im Hintergrund steht eine 1,45 m hohe Figur der Hl. Anna vor der Sakristei. Die Kleinorgel auf der Empore wurde im Mai 1971 gekauft. Sie stammt aus der Werkstatt der Gebrüder Reiser, Biberach und besitzt 2 Manuale und 9 Register.

Die Wappengalerie in der St.-Anna-Kapelle

In der Kapelle St. Anna sind insgesamt 21 Adelswappen an den Wänden und an der Decke zu sehen. Sie sind nicht willkürlich angeordnet, sondern folgen einer klaren Systematik: Die beiden Wappen des Stifterpaares, Ulrich VII. von Montfort und Magdalena, geb. von Oettingen erscheinen groß an der Stirnwand des Langhauses zum Chor hin. Die Schlusssteine des Netzrippengewölbes im Langhaus tragen die reliefartigen, bemalten Wappen der Eltern der Stifter. Von vorne nach hinten sind es die Wappen der Grafen von Montfort, von Oettingen, von Schwarzenberg und der Markgrafen von Hachberg. Im Chorraum enden die Netzrippen auf acht Schildkonsolen, die mit den Wappen der Großeltern des Stifterpaares verziert sind. Von links nach rechts sind es die Wappen von MontfortBregenz, Werbenberg-Bludenz, Hachberg, Montfort-Tettnang, Oettingen, Schwarzenberg, Nellenburg und Görz. In dem abgenutzten Fenstersims aus Sandstein auf der Empore sind nochmals die Wappenreliefs von Montfort, Oetingen, Schwarzenberg und Hachberg zu erkennen. Drei weitere Wappenzeichnungen sind an den Wänden erhalten. Es wird angenommen, dass sich zusätzliche Wappen unter dem Putz befinden.

Die Wappengalerie in der Kapelle ist eine Art steinerne Familienchronik des Hauses Montfort, in der die Wappen der direkten Vorfahren der Stifter dargestellt sind. Die Wappenbilder haben damit einen eindeutigen Bezug zum Beweggrund der Kapellenstiftung: Fürbitte um den Fortbestand des Hauses Montfort-Tettnang.

Graf Ulrich VII. von Montfort heiratete 1586 Magdalena, die einzige Tochter des Grafen Ludwig XIII. von Oettingen-Wallerstein. Von den zehn gemeinsamen Kindern starben die beiden Söhne früh. Da die Töchter für eine dynastische Erbfolge nicht in Frage kamen, bestand die Gefahr, dass das Haus Montfort-Tettnang ausstirbt. Um diese Schicksal abzuwenden, erhoffte sich das Grafenpaar Beistand und Hilfe von der Hl. Anna, der Patronen der Mütter und kinderlosen Frauen. Im Jahre 1513 ließen die Stifter die gotische Kapelle erbauen, der Hl. Anna weihen und mit kostbarem Inventar ausstatten. Wie ein letzter, verzweifelter Versuch, den Schöpfer davon zu überzeugen, dass dieses altehrwürdige Geschlecht nicht aussterben dürfe, ließen die Erbauer die Kapelle mit den eigenen Wappen, und denen der Eltern und Großeltern schmücken.

Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass sich bei Ulrich VII. und Magdalena kein weiterer Nachwuchs mehr einstellte. Ulrich starb 1520. Magdalena wurde ein Jahr später mit der Grafschaft belehnt. Sie heiratete den VeIer ihres GaIen, den Grafen Johann IV. (†1529) aus der Linie Mon?ort-Tettnang zu Rothenfels. Von ihm empfing sie noch ein Mädchen, das den Namen Anna erhielt. Die Grafschaft blieb durch Magdalenas zweite Ehe dem Hause Mon?ort erhalten. Johanns Neffe Hugo XVII. (†1564) setzte die Line Tettnang zu Rothenfels fort.

Der Strigel-Altar

Mit der Stiftung der St.-Anna-Kapelle gaben Ulrich VII. und Magdalena einen Altar bei dem Memminger Künstler Bernhard Strigel in Auftrag. Der wahrscheinlich geschnitzte Altarschrein ist verloren gegangen, aber die gemalten Altarflügel existieren noch und befinden sich heute in der Kunstsammlung des Hauses Oettingen-Wallerstein auf der Harburg.

Die Flügel zeigen im geöffneten Zustand, zwei Szenen aus dem Leben der hl. Anna: links das Bild „Anna wird vom Engel getröstet“ und rechts „Die Begegnung unter der goldenen Pforte“. Auf den Außenseiten der Flügel ist das Stifterpaar abgebildet, beide kniend und im Gebet vertieft. Beide Portraits sind mit dem jeweiligen Stammwappen des Herrscherpaares verziert.

Ebenso wie die Anordnung der Wappen in der Kapelle ist auch die Wahl der Anna-Szenen und die betonte Darstellung der Wappen auf den Altarflügeln ein Anhaltspunkt für die Absicht der Stifter, Gottes Gunst um männlichen Nachwuchs zu erbitten. 2010 ließ der Förderkreis Heimatkunde e. V. in Tettnang eine verkleinerte Nachbildung dieser Altarflügel anfertigen und mit einer Beschreibung an der rechten Chorwand anbringen.

Gisbert Hoffmann

Literatur

Frick, Dr. Alex: Pfarrei St. Gallus Tettnang, Kleiner  Kunstführer Nr. 1335, 1. Auflage, Schnell + Steiner, München/Zürich 1982. 

Hoffmann, Gisbert: Kapellen in Tettnang und Meckenbeuren, Heimat-Zeichen 5, Förderkreis Heimatkunde Tettnang (Hg.), Tettnang 2004.

Hinweis

Der Kunstführer „Die Kapellen der katholischen Pfarrgemeinde St. Gallus, Tettnang“, dem dieser Text entnommen wurde, ist im Pfarrbüro, in der Pfarrkirche und in den Kapellen der Pfarrgemeinde zum Preis von € 5,00 erhältlich.

Rechts vom Chorbogen befindet sich diese Nachbildung einer gotischen Madonna aus dem 20. Jahrhundert von einem unbekannten Künstler aus Oberammergau

Mehr über die Orgel von St. Anna können Sie hier erfahren […]